Mehr als Marketing: Kompetenzentwicklung für die Immobilienwirtschaft mittels Virtual Reality

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Nicht erst seitdem ein weltweit bekannter IT-Konzern mit Hochdruck an einem digitalen Metaversum arbeitet, ist Virtual Reality (VR) ein Trend-Thema in unserer Gesellschaft. Eine der Branchen, die die Vorteile dieser Technologie inzwischen immer mehr für sich zu nutzen wissen, ist die Immobilienwirtschaft. Mit dem Stand, den Hintergründen und den Perspektiven der Anwendung von VR in diesem Bereich befasste sich auch Michael Dahlems, Student der Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Immobilienmanagement an der IU International University of Applied Sciences (IU), in seiner Bachelorarbeit zum Thema „Virtual Reality in der Immobilienbranche – Analyse der Herausforderungen und Einsatzpotenziale“. Unter Betreuung von Herrn Prof. Dr. Helge Fischer (IU) führte er sechs leitfadengestützte Experten-Interviews mit verschiedenen Spezialisten, wie z. B. einer Architektin, einem Bauleiter und einem Projektmanager, durch. Zu den Befragten zählte auch Jonathan Dyrna, wissenschaftlicher Mitarbeiter am CODIP, der u. a. im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsvorhabens Digitale Bildungsangebote in der Immobilienwirtschaft mittels Virtual Reality (DOmIcILE-VR) zur didaktischen Konzeption und organisationalen Implementierung von VR-Lernanwendungen in Bildungsinstitutionen forscht. Nachfolgend lesen Sie – mit dankend erhaltender Genehmigung von Herrn Dahlems – einen Auszug aus dem Interview mit Herrn Dyrna.

Portraitfoto J. Dyrna Jonathan Dyrna hat ein Masterstudium der Medien- und Lernpsychologie an der Technischen Universität Chemnitz absolviert und ist seit 2017 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am CODIP tätig. In DOmIcILE-VR ist er – in enger Abstimmung mit der Projektleitung und den Fachdidaktiker:inne:n von der Akademie für Berufliche Bildung (AFBB) sowie den Medientechnikern bzw. -entwicklern von der Fachhochschule Dresden (FHD)  – hauptverantwortlich für die mediendidaktische Konzeption sowie die bildungstheoretische Anknüpfung und wissenschaftliche Evaluation des entwickelten, VR-gestützten Lernszenarios.

(Michael Dahlems) Welche Einsatzpotenziale sehen Sie für VR im Immobilienbereich?

(Jonathan Dyrna) Für den Immobilienbereich sehe ich aktuell zwei zentrale Anwendungsfälle für VR. Einer liegt in der Vermarktung und dem Vertrieb von Immobilien bzw. Mietobjekten. Immer mehr Anbieter ermöglichen eine vollständige Digitalisierung von Wohnungen oder ganzen Gebäuden, damit Mietinteressenten diese beispielsweise als 360-Grad-Ansichten bequem im Internet besichtigen können. Laut einer aktuellen Marktstudie setzen Unternehmen aus der Immobilienwirtschaft zunehmend auf solche VR-Angebote. Experten, wie z. B. Prof. Dr. Hutzschenreuter (Technische Universität München), prognostizieren, dass VR-basierte Verkaufsprozesse in der Immobilienbranche bis 2030 zum Standard werden. Ich selbst bin da etwas vorsichtiger, gehe aber ebenfalls von einer weiteren Verbreitung aus.

Der zweite Anwendungsfall betrifft den Einsatz in der Bildung. Hier können virtuelle Immobilien zum Beispiel in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden, um Handlungskompetenzen für Immobilienbewertungen oder – wie in unserem Fall – Wohnungsabnahmen und -übergaben zu fördern. Für ein Forschungsprojekt haben beispielsweise Kolleg:innen aus Australien und Hong Kong eine VR-Lernanwendung entwickelt, mit der Lernende u. a. ein grundlegendes Verständnis für bebaute Flurstücke entwickeln und zudem lernen sollen, fundierte Investitionsentscheidungen für Immobilien zu treffen und entsprechende Empfehlungen für einen (Nicht-)Kauf zu formulieren. Eine ähnliche Anwendung ist in unserem Forschungsprojekt DOmIcILE-VR entstanden. Hier haben wir eine virtuelle Umgebung entwickelt, mit deren Hilfe Aus- und Weiterzubildende u. a. trainieren sollen, den Zustand von Mietwohnungen juristisch korrekt zu bewerten und ihre Einschätzung sachgerecht zu protokollieren sowie gegenüber der ausziehenden Mietpartei angemessen zu kommunizieren. Solche Ansätze sind sehr vielversprechend, es gibt davon aber leider noch viel zu Wenige. Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen aus Bildung und Immobilienwirtschaft sind, gemeinsam weitere Anwendungsfälle zu konzipieren und umzusetzen.

Welche Chancen resultieren Ihrer Ansicht nach aus dem Einsatz von VR in der Immobilienbranche?

Die Chancen liegen aus meiner Sicht neben dem wirtschaftlichen insbesondere auch im didaktischen Bereich. Zwar ist es für Immobilienunternehmen zunächst mit Kosten verbunden, ihre Objekte für virtuelle Besichtigungen digital aufzubereiten. Ist die Aufbereitung aber erst einmal erfolgt, können Ressourcen eingespart werden. Da sich potentielle Interessenten zunächst z. B. online einen ersten Eindruck vom Objekt verschaffen und darauf basierend entscheiden können, ob ein grundlegendes Kauf- oder Mietinteresse besteht, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger Besichtigungen durchgeführt, die am Ende nicht zu einem Verkauf oder einer Vermietung führen. Das spart Maklerbüros und Verwaltungen wertvolle Arbeitszeit.

Auch im Bildungsbereich können Ressourcen eingespart werden. Mittels digitalen VR-Anwendungen wie der von uns entwickelten Lernumgebung können Szenarien wie beispielsweise Wohnungsabnahmen zeitlich und örtlich flexibel – also auch über große Distanzen hinweg – von theoretisch unbegrenzt vielen Lernenden gleichzeitig geübt werden, deren Training ohne VR erheblich aufwändiger wäre. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten Immobilienverwaltungen oder Wohnungsgenossenschaften hinreichende Kapazitäten dafür haben, dass ihre Trainer:innen mit den Aus- bzw. Weiterzubildenden in leerstehende oder gar beispielhaft teilmöblierte Mietobjekte fahren und dort Abnahmen üben können. Außerdem ermöglichen VR-Lernumgebungen eine weitgehend flexible Konfiguration, sodass die Mietobjekte, etwa hinsichtlich der Anzahl ihrer Zimmer oder der vorliegenden Mängel, immer wieder an neue Trainingsanforderungen angepasst werden können. Auch das ist in der Realität quasi nicht möglich.

Aus didaktischer Sicht ergibt sich der Vorteil, dass die Lernenden die zu erlernenden Handlungen in VR-Umgebungen auch selbst praktisch durchführen können. Viele Immobilienbetriebe nehmen ihre Aus- und Weiterzubildenden zwar z. B. zu realen Abnahme- oder Verkaufsterminen mit, wo sie ihre erfahrenen Kolleg:innen beobachten können. Aus bildungswissenschaftlicher Sicht führt eine passive Beobachtung jedoch ebenso wie eine rein theoretische Betrachtung selten zu dem Kompetenzerwerb, den die aktive Durchführung einer Handlung ermöglicht. Die Untersuchung der Kolleg:innen aus Australien und Hong Kong deutet ebenso auf eine hohe Lernförderlichkeit von VR-Anwendungen für den Immobilienbereich hin wie unsere ersten Ergebnisse. Hier ist aber noch weitere Forschung – wie beispielsweise vergleichende Studien zu verschiedenen didaktischen Herangehensweisen – erforderlich.

Welche Risiken sehen Sie dabei?

Die wesentlichen Risiken sind aus meiner Sicht vor allem technisch bedingt. Wie jede andere Technologie ist VR zu einem gewissen Grad störungsanfällig und Bedarf einer kontinuierlichen Betreuung und Wartung, wenn sie dauerhaft möglichst reibungsarm funktionieren soll. Weiterhin erreicht der Großteil der handelsüblichen und finanziell erschwinglichen VR-Infrastruktur noch nicht denselben Grad an Darstellungsschärfe und Performanz wie die Realität. Bereits leichte Unschärfen oder Verzögerungen in der Darstellung können dazu führen, dass die Nutzenden Symptome der sogenannten VR-Krankheit erleben, die ungefähr mit der Reisekrankheit vergleichbar sind. Sie können dazu führen, dass die Lernenden ein VR-Szenario als weniger angenehm erleben und vom Lernvorgang abgelenkt werden. Da sich diese Technologie jedoch rasant weiterentwickelt, gehören solche Einschränkungen in Zukunft hoffentlich mehr und mehr der Vergangenheit ein.

Was ist Ihrer Meinung nach notwendig, um VR-Technologien nachhaltig in Unternehmen zu integrieren?

Um VR langfristig erfolgreich in ein Unternehmen zu integrieren, müssen auf verschiedenen Ebenen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden. Am Anfang steht für mich hier – wie bei jeder betrieblichen Implementierung einer neuen Technologie – eine Kosten-Nutzen-Analyse. Dabei gilt es beispielsweise abzuwägen, welche didaktischen Vorteile ihre Einführung mit sich bringen würde und ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den entstehenden Kosten stehen. Neben den didaktischen und ökonomischen sollten dabei insbesondere auch die soziokulturellen Gegebenheiten und Folgen beachtet werden. Häufig sind die treibenden Akteure für die Implementierung von technologischen Innovationen auf der Leitungsebene zu finden. Sie erhoffen sich dadurch neben finanziellen Einsparnissen auch einen Renommee-Zuwachs, der sich ebenfalls ökonomisch förderlich auswirkt. Letztendlich wird der mittel- bzw. langfristige Erfolg der Einführung von VR-Technologien aber überwiegend von der operativen Personalebene und der Kundschaft bestimmt. Mittlere Führungskräfte, Trainer:innen, Kaufinteressierte oder Lernende werden die VR-Technologie nur dann aktiv und zielorientiert nutzen, wenn sie ihren Mehrwert erkennen und ihre Implementierung hinreichend akzeptieren. Wenn sie die neue Technologie dagegen als eine unnütze, zusätzliche Belastung oder gar Überforderung erleben, dann wirkt sich das negativ auf die Erfolgsaussichten dieser Innovation aus. Deshalb sollten Unternehmen geeignete Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz und Akzeptanz und zur Unterstützung der Mitarbeitenden und Kunden durchführen, indem sie beispielsweise die operative Ebene frühzeitig und aktiv in ihre Implementierungsentscheidungen und -strategien einbeziehen und geeignete Angebote, wie beispielsweise graduelle Workshops sowie einen technischen und mediendidaktischen Support, schaffen. Insgesamt sind die Faktoren und Prozesse, die die Einführung von VR in Unternehmen bestimmen und beeinflussen, sehr umfassend und komplex. Hierzu haben wir bereits ein vereinfachtes Modell entwickelt und veröffentlicht, das wir zur Zeit kontinuierlich weiterentwickeln und verfeinern. Ein Ende ist also sowohl hinsichtlich des VR-Trends in der Immobilienwirtschaft als auch unserer Forschung dazu momentan nicht in Sicht.

Weiterführende Literatur:

Dyrna, J. (2022). Wohnungsabnahmen virtuell trainieren: Entwicklung eines Virtual Reality-Lernszenarios für Immobilienverwaltende. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 47, 172–195. https://doi.org/10.21240/mpaed/47/2022.04.09.X

Fischer, H., Arnold, M., Philippe, S., Dyrna, J., & Jung, S. (2021). VR-based Learning and Teaching. A Framework for Implementation of Virtual Reality in Formal Education. In L. Gómez Chova, A. López Martínez, & I. Candel Torres (Hrgs.), Proceedings of the 15th International Technology, Education and Development Conference (S. 3304–3314). Valencia: IATED Academy. https://doi.org/10.21125/inted.2021.0694

Hutzschenreuter, T. & Burger-Ringer, C. (2018). Impact of Virtual, Mixed, and Augmented Reality on Industries, 2018. Forschungsbericht. https://doi.org/10.14459/2018md1454069

Hou, H. C., & Wu, H. (2020). Technology for real estate education and practice: a VR technology perspective. Property Management, 38, 311–324. https://doi.org/10.1108/PM-08-2019-0046

 

Autor: Jonathan Dyrna

Josephine Obert

Technische Mitarbeiterin für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit am CODIP - TU Dresden.

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